„Frühling drinnen und draußen!“ – so begrüßt Karl Wilhelm Jaspers die Geburt seines Sohnes Karl Theodor am 23. Februar 1883 in der Moltkestraße 19. Zu diesem Zeitpunkt ist der Bankdirektor der Oldenburgischen Spar- und Leihkasse seit zwei Jahren mit Henriette Tantzen verheiratet, die aus einem alten Bauerngeschlecht in Heering (Butjadingen) stammt. Kally, wie man ihn bald nennt, ist das erste Kind des Paares. 1885 wird die Schwester Erna, 1889 der Bruder Enno geboren.
Das Elternhaus ist großbürgerlich und liberal. Freiheit, Ehrlichkeit und Fleiß sind die leitenden Werte in der Erziehung der Kinder. 1892 zieht die Familie in die Bismarckstraße 12 um. Das Haus in der Gartenstraße 28, das in einer Zeichnung des Studenten Jaspers abgebildet ist, erwirbt der Vater erst 1903. Die Huntelandschaft, der offene Horizont um Jever und Heering, das Meer und die Inseln an der Nordsee – das sind die Bilder, die Jaspers’ Erinnerungen an eine glückliche Kindheit lebenslang prägen.
Doch früh muss Jaspers feststellen, dass die Vernunft und die Offenheit des Elternhauses in einer von Konventionen und blindem Gehorsam beherrschten Außenwelt sich schwer vertreten lassen. Die Schulzeit am Großherzoglichen Gymnasium ist von zahlreichen Konflikten mit den Lehrern und dem Direktor begleitet. Jaspers lernt, gegen den Strom zu schwimmen, wenn es um seine Prinzipien geht. Gegenüber der Obrigkeit bleibt er unbeugsam. Die Außenseiterrolle, in die er gedrängt wird, nimmt er in Kauf. […]
„Die Welt und die Menschen sind mir fremd trotz des außerordentlichen Interesses, das ich für sie habe“, schreibt Jaspers seinem Vater, wohl wissend, dass er selber bei den Menschen in seiner Umgebung Befremden erweckt. Vor allem diejenigen, die ihn nicht näher kennen, sind immer wieder irritiert von seiner Distanz, seiner Strenge in moralischen Urteilen, seiner äußersten Empfindlichkeit gegenüber jeder Kritik. Man stempelt ihn gerne als weltfremden Gelehrten und Sittenrichter ab. Dabei beweist Jaspers im praktischen Leben eine geradezu erstaunliche Klugheit: Die philosophische Karriere des Quereinsteigers, das umsichtige Verhalten des politisch Diskriminierten, der öffentlichkeitswirksame Umgang mit den Medien des engagierten Schriftstellers sind wahre Meisterstücke strategischen Handelns.
Auch der Vorwurf des Moralismus erscheint unbegründet, wenn man in der Korrespondenz mit Freunden und Bekannten liest, wie Jaspers bei einer grundsätzlichen Kompromisslosigkeit dem Einzelschicksal dennoch Verständnis entgegenbringt. Aus dem Erfahrungsmangel, zu dem ihn seine Krankheit verdammt, macht er eine Stärke. Er entwickelt sich bald zu einem exzellenten Beobachter, dessen besondere Begabung im Erfassen von Stimmungen und im Skizzieren geistiger Physiognomie liegt, und erreicht dadurch ein ungewöhnlich hohes Maß an Toleranz für menschliche Verhaltensweisen. […]
1902 fasst Jaspers während eines Kuraufenthaltes in Sils-Maria den Entschluss, Medizin zu studieren. Sein Vorbild ist Albert Fraenkel, der Arzt, der ihn über seine Krankheit aufgeklärt hat und ihn betreut. Insgeheim denkt der junge Jaspers allerdings schon an eine akademische Laufbahn als Psychiater oder Psychologe, denn sein eigentlicher Antrieb ist die philosophische Frage nach dem Menschen. Mit bewundernswerter Konsequenz gelingt es ihm, seinen Plan zu verwirklichen.
Nach dem Staatsexamen promoviert Jaspers 1909 in Heidelberg mit einer Dissertation über „Heimweh und Verbrechen“. Danach arbeitet er als freiwilliger, unbezahlter Assistent an der psychiatrischen Universitätsklinik. Hier findet er ein anregendes Forschungsumfeld, in dem die Radikalität des Fragens mit therapeutischer Bescheidenheit und Milde einhergeht. Die Geisteskrankheit wird nicht als Stigma, sondern als Möglichkeit des Daseins betrachtet, ja sogar als Zeichen einer Begabung: „Normal ist leichter Schwachsinn“, heißt es unter Kollegen. […]
1913 veröffentlicht Jaspers das Ergebnis seiner psychiatrischen Studien, die „Allgemeine Psychopathologie“. Das Buch, das den Autor über Nacht berühmt macht und heute noch als Standardwerk gilt, begründet die Psychopathologie als Fachwissenschaft, indem es erstmals Begriffe, Phänomene und Methoden in einer offenen Systematik ordnet. Was den Jaspers’schen Ansatz von der „somatischen“ Ausrichtung der Psychiatrie seiner Zeit unterscheidet, ist vor allem die Überzeugung, dass das Seelische, anders als die Gegenstände der Naturwissenschaften nicht „erklärt“, sondern nur „verstanden“ werden kann. Seelische Phänomene haben keine eindeutige Ursache. Sie bilden vielmehr komplexe Sinnzusammenhänge, die es zu interpretieren gilt, und das wird gerade bei jenen pathologischen Zuständen deutlich, wo das Verstehen an seine Grenzen stößt.
Dieser Ansatz hat schwerwiegende Folgen für die therapeutische Beziehung, denn er verlangt, dass der Arzt die Selbstdarstellung des Kranken ernst nimmt, dass er sich in ihn hineinversetzt, ihm zuhört und mit ihm spricht, und zwar auf gleichem Niveau. Das Ideal ist ein Gespräch, bei dem der Arzt nicht nur den Patienten, sondern auch sich selbst besser versteht. Aus dem Arzt-Patient-Verhältnis macht Jaspers ein Paradigma dessen, was er als Philosoph „existenzielle Kommunikation“ nennen wird. Der Konflikt mit Freud, dessen Lehren sich in diesen Jahren allmählich durchsetzen, ist vorprogrammiert: In Jaspers’ Augen ist die Vormachtstellung, die der Psychoanalytiker gegenüber dem Patienten einnimmt, ethisch unhaltbar.
Streng genommen endet die psychiatrische Karriere von Jaspers mit der Veröffentlichung seines Erstwerks, denn mit der Habilitation für das Fach Psychologie an der philosophischen Fakultät und der Tätigkeit als Privatdozent beginnt ein neuer Abschnitt seines wissenschaftlichen Werdegangs. […]
In der Jugend liest Karl Jaspers zwar philosophische Bücher, denkt gerne über Sinnfragen nach, wagt es aber nicht, Philosophie zu studieren. Sein akademischer Weg führt ihn zunächst über die Medizin zur Psychologie. Dass er 1922 mit fast vierzig Jahren dennoch einen philosophischen Lehrstuhl erhält, hat mit glücklichen Umständen und politischem Geschick zu tun: In der unruhigen Zeit, die auf den Zusammenbruch des Deutschen Reiches folgt, tritt Jaspers selbstbewusst als Denker auf, der aus der eigenen fachwissenschaftlichen Erfahrung philosophiert. Die Botschaft lautet: „Professorenphilosophie“ ist keine Philosophie, denn Philosophie ist kein Beruf, sondern ein menschliches Bedürfnis. An der Universität hat die Philosophie nur dann Sinn, wenn sie auf der Wirklichkeit des Forschens beruht. Als Beispiel dafür zieht Jaspers Max Weber heran, der sich als Nationalökonom mit grundlegenden Fragen der Erkenntnistheorie beschäftigt hat.
Von den neuen Kollegen wird Jaspers, der keiner philosophischen Schule angehört und auch als Professor keine Schule bilden will, skeptisch beäugt. Unter den akademischen Philosophen ist Martin Heidegger, den er Anfang der zwanziger Jahre kennen und schätzen lernt, der Einzige, mit dem er eine kontinuierliche Beziehung unterhält. Ein ganzes Jahrzehnt lang stellt Jaspers seine Veröffentlichungen ein – im Bewusstsein, sich neuen Stoff und neue Methoden aneignen zu müssen. 1931 veröffentlicht er ein umfangreiches Werk mit dem schlichten Titel „Philosophie“. Der Grundgedanke des Buches besagt, dass Philosophieren ein „Transzendieren“ ist: ein Hinausschreiten aus dem, was zunächst und zumeist da ist. Im Zentrum des Werkes steht die menschliche Existenz, die nur in der Kommunikation zu einer anderen Existenz zu sich kommen kann.
In den darauf folgenden Jahren bemüht sich Jaspers, seine Überzeugungen in systematischer und historischer Hinsicht zu überprüfen und zu erweitern. Neben den Begriff der Existenz stellt er Mitte der dreißiger Jahre den der Vernunft. In der „Philosophischen Logik“, deren ersten Band er 1947 unter dem Titel „Von der Wahrheit“ vorlegt, ist die Vernunft das „Band“, das die verschiedenen Weisen des Seins zusammenhält. Dieses Sein ist ein Ganzes, das in intuitiven Erkenntnisformen etwa in der mystischen Erfahrung unmittelbar erfasst wird, aber im rationalen Denken erst zergliedert werden muss, um erkannt zu werden. Jaspers nennt es auch das „Umgreifende“.
In der Geschichte der Philosophie sucht Jaspers vor allem nach den Motiven, die für sein eigenes Denken charakteristisch sind. Das setzt ihn einerseits der Gefahr aus, seine Philosophie auf die Autoren der Vergangenheit zu projizieren, eröffnet ihm andererseits aber auch einen unbefangeneren Zugang zu Stimmen, die auf Grund der historischen Distanz sonst vielleicht schweigen würden. So stellt Jaspers bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Vorrang des griechischen Logos noch selbstverständlich ist, außereuropäische Überlieferungen und abendländische Geistesgeschichte auf dieselbe Stufe. Unter den „Großen Philosophen“ findet man im gleichnamigen Buch von 1957 Gestalten wie Buddha, Konfuzius, Laotse und Nagarjuna.
Jaspers will, wie gesagt, keine Schule bilden. Dennoch hat er eine Reihe prominenter Schüler, die sich vor allem durch Unabhängigkeit und Originalität auszeichnen. Unter diesen ragt Hannah Arendt heraus, die zur Verbreitung der Jaspers‘schen Philosophie in den Vereinigten Staaten wesentlich beiträgt. Sie tut es direkt durch die Betreuung englischsprachiger Übersetzungen der Werke ihres Lehrers; aber auch indirekt durch die politisch-philosophische Aneignung und Verwertung seines Denkens in ihren eigenen Werken.
Wie viele Gelehrte seiner Generation ist Karl Jaspers als junger Mann unpolitisch. Trotz des Einflusses seines Vaters, der in der Tradition des deutschen Liberalismus steht, bleibt ihm die Vorstellung, sich öffentlich und parteipolitisch zu engagieren, lange Zeit fremd. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, lässt sich Jaspers von der allgemeinen Kriegseuphorie nicht anstecken. Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen glaubt Jaspers, der als chronisch Kranker kriegsuntauglich ist, nicht mitreden zu können, wo der Einsatz des Lebens gefordert wird. Zum anderen will er als Mitglied der Universität, die ihrer Idee nach dem kosmopolitischen Geist der Wissenschaft verpflichtet ist, möglichst neutral bleiben. Letzteres wird Jaspers zeit seines Lebens beschäftigen, wie man in den drei Fassungen seiner „Idee der Universität“ (1923, 1946, 1961) deutlich lesen kann.
Eine einzige Ausnahme macht Jaspers, als er 1919 in die Deutsche Demokratische Partei eintritt – wohl aus Vertrauen in deren Mitbegründer Max Weber. 1922 tritt er, inzwischen Ordinarius, wieder aus. In den schwierigen Jahren der Weimarer Zeit sieht der Universitätsdozent seinen gesellschaftlichen Beitrag vor allem in der Bildung einer neuen, nach geistesaristokratischen Prinzipien erzogenen Elite. Dass dieselbe Jugend, in die er seine Hoffnung setzt, eher von den totalitären Ideologien angezogen ist als von dem von ihm geforderten „Adel des Selbstseins“, erkennt er zunächst nicht. Seine auf die Aktualität bezogene Schrift zur „Geistigen Situation der Zeit“ (1931) nimmt das Phänomen des Nationalsozialismus nicht wahr. Die Sorge um eine bleibende Diktatur, die er am Vorabend der Wahlen vom März 1933 in einem Brief an den Vater äußert, klingt im Nachhinein wie eine dunkle, verdrängte Vorahnung.
Doch der Unpolitische wird bald von der Politik eingeholt. Für das neue Regime gilt Jaspers, der mit einer Jüdin verheiratet ist, als „nicht-arisch versippt“, d.h. als Bürger zweiter Klasse. Da er sich weigert, sich nach dem damaligen Brauch wenigstens formell scheiden zu lassen, spitzen sich die Diskriminierungsmaßnahmen zu, bis er zum Staatsfeind erklärt wird. 1937 wird Jaspers zwangspensioniert, beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges müssen er und seine Frau Gertrud um eine Trennung oder eine Deportation fürchten. Für solche Fälle beschließen sie, gemeinsam Selbstmord zu begehen, behalten deshalb immer das Gift Zyankali in Reichweite.
Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus gehört der unkompromittierte Jaspers zu jenen Männern, die von der amerikanischen Besatzung mit dem Wiederaufbau der Universität Heidelberg beauftragt werden. Die wiedergewonnene Freiheit der Rede, der Lehre und der Veröffentlichung seiner Schriften nutzt der Philosoph, um als Deutscher seine Landsleute zur Gewissensprüfung und zur „geistigen Umkehr“ aufzufordern. Die erste Vorlesung, die er nach dem Krieg hält und mit dem Titel „Die Schuldfrage“ 1946 publiziert, gilt als Meilenstein des deutschen Nachkriegsdiskurses. Als Herausgeber der Zeitschrift „Die Wandlung“ sorgt Jaspers außerdem für ein Forum, in dem sich deutsche Autoren – vor allem jene, die sich in in der Nazizeit nicht äußern durften – wieder über politische und kulturelle Themen austauschen können. Doch von der politischen Entwicklung Deutschlands ist Jaspers enttäuscht: Die „Umkehr“ bleibt in seinen Augen aus. 1948 beschließt er, einem Ruf an die Universität Basel zu folgen. […]
Quelle:
Es handelt sich um ausgewählte Textpassagen des größeren Textes zur „Biographischen Ausstellung”, die Suzanne Kirkbright und Gian Domenico Bonanni für das Jaspers-Jahr 2008 schrieben. Der Beitrag erschien in: Matthias Bormuth und Monica Meyer-Bohlen (Hrsg.): „Wahrheit ist, was uns verbindet” – Philosophie, Kunst und Krankheit bei Karl Jaspers, Hauschild: Bremen 2008;
entnommene Zitate: S. 332-333, S. 350-151, S. 364-365, S. 378-379.