Hölderlin und seine Krankheit (Jann Schlimme)
Kategorie: Archiv
Fr., 11. Sept., 19:30 Uhr
Friedrich Hölderlin (1770-1843) war aufgrund einer „Manie als Nachkrankheit der Krätze“ von 1806-1807 Patient im Tübinger Universitätsklinikum. Ihm widerfuhr eine für die damalige Zeit als fortschrittlich, aus heutiger Zeit als traumatisierend einzuschätzende Behandlung. Anschließend lebte er 36 Jahre in Familienpflege, was aus damaliger Zeit als behandlungsfern, aus heutiger Zeit wiederum eher als behandlungsfortschrittlich gelten könnte. Sein „Wahnsinn“ beeinflusste nicht nur die Rezeption seiner Werke, sondern lud auch Psychiater, Psychoanalytiker und Anti-Psychiater dazu ein, ihre oft sehr unterschiedlichen diagnostischen Kategorien und dynamischen Überlegungen zur Psychoseerfahrung am „Fall Hölderlin“ zu erproben und bestätigt zu sehen. Außerdem finden sich Veränderungen in seinem Schreiben im Lebensverlauf insbesondere in kompositorischer Hinsicht, die im Lebensverlauf zeitlich mit seiner psychischen Erkrankung korrelieren und einen Blick auf seine Bewältigung der psychischen Veränderungen erlauben. Der „Fall Hölderlin“ zeigt sich insofern als ein klassisches Beispiel für die historische Bedingtheit und Horizontabhängigkeit von Psychoseerfahrung, ihrem Verständnis und ihrer Behandlung sowie zur Bestimmung der Vielfalt des Zueinanders von Psychoseerfahrung und literarischer Aktivität.
Jann E. Schlimme ist Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er führt eine Privatpraxis zur Psychosenpsychotherapie, ist Gastwissenschaftler an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité und lehrt in Berlin auch an der Universität der Künste. Zudem ist er stellvertretender Leiter des Referats „Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Unter anderem veröffentlichte er gemeinsam mit Uwe Gonther den Sammelband „Hölderlin und die Psychiatrie“ (Psychiatrie Verlag, 3. Aufl. 2013) und die zwischen Psychiatrie, Philosophie und Literatur angesiedelte Studie „Verlust des Rettenden oder letzte Rettung. Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung“ (Alber 2010).