Bewusstsein als Verhängnis (Hartmut Lange und Sebastian Kleinschmidt)

Kategorie: Archiv

Do., 19. Mai, 19:30 Uhr

Lesung und Gespräch mit Hartmut Lange.
Moderation: Sebastian Kleinschmidt.

Wollte man den erkenntnistheoretischen Standpunkt, der Hartmut Langes Prosawerk zugrunde liegt, auf eine Formel bringen, müsste sie Gewißheit der Ungewißheit lauten. Seine Novellen lassen sich lesen als Epiphanien des nihilistischen Zwielichts. Seine an Kafka und Kleist geschulte Erzählkunst vermag Atmosphären heraufzubeschwören, in denen sich die existentielle Angst des mit Bewußtsein geschlagenen Erdenkinds vor der Vergänglichkeit und dem Verschwinden gleichzeitig verbirgt und enthüllt. Für den Autor, der sich in seiner Künstlerschaft an die paradoxe Devise „Im freien Fall zur Ruhe kommen“ hält, ist Schreiben immer auch ein Anschreiben gegen die eigene metaphysische Ratlosigkeit.

 Im Mittelpunkt des Abends steht die Kurznovelle »Seidel«, erschienen 1984. Sie ist ein eindrucksvolles Zeugnis von Langes poetischem Vermögen, innerpsychische Zustände des Einzelnen landschaftlich und szenisch zu veranschaulichen. Die Erzählung bezieht sich auf den Fall des Selbstmörders Alfred Seidel, Verfasser eines philosophischen Werks mit dem Titel »Bewußtsein als Verhängnis«. Das Buch, das 1927 mit einer Einleitung des Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn posthum im Verlag Friedrich Cohen in Bonn veröffentlicht wurde, kannte auch Karl Jaspers, wie die Anstreichungen und Randbemerkungen im Exemplar aus seiner Bibliothek zeigen. Ernst Bloch, Siegfried Kracauer und Margarete Susman haben Seidels Schrift, in der auch die »Psychologie der Weltanschauungen« des Oldenburger Philosophen eine Rolle spielt, ausführlich rezensiert. Im düstern Spiegel der von Lange erzählten Geschichte dieses zerquälten, unerlösten, dem Wahnsinn nahen Denkers kann der Leser etwas erahnen vom destruktiven Kampf der Kräfte und Gegenkräfte, wie er in einer von Glaubensleere, Sinnverflüchtigung und Depression geschüttelten Seele tobt, die nach Halt und Erfüllung sucht, ohne sie jemals finden zu können. Langes »Seidel« ist eine kompromisslose Erzählung über nihilistische Verzweiflung.Lange Der Autor kennt das Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit, der transzendentalen Obdachlosigkeit, sie ist ihm seit langem ein treuer Begleiter seiner Reflexionen. So gesehen trägt seine Erzählung auch Züge einer Autobiographie intérieure.

Kleinschmidt

Hartmut Lange, geboren 1937 in Berlin, Dramatiker, Novellist und Essayist, lebt dort. Jüngste Veröffentlichung: »Der Blick aus dem Fenster. Erzählungen.« Diogenes Verlag, Zürich 2015

Sebastian Kleinschmidt, geboren 1948 in Schwerin, Herausgeber und Essayist, von 1991 bis 2013 Chefredakteur von Sinn und Form, lebt in Berlin. Jüngste Veröffentlichung: »Gedicht und Gedanke. Neun Interpretationen.« Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2015