Person und Persönlichkeit. Überlegungen aus klinischer Perspektive (Carsten Spitzer)
Kategorie: Aktuelles // Allgemein
Di., 27. Februar 2024, 19:30 Uhr
Persönlichkeitsstörungen wurden in der klassischen Psychopathologie, auch von Karl Jaspers, als Personen bestimmt, „die an ihrer Abnormität leiden oder an deren Abnormität die Gesellschaft leidet“. Die „abnormen Persönlichkeiten“ galten als „negative Extremvarianten“ und wurden klinisch in ein typologisches System gebracht. Dieser kategoriale Ansatz ist in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten und forderte eine Neubestimmung heraus, was eine ‚gesunde‘ und eine ‚gestörte‘ Persönlichkeit ausmacht.
Der Vortrag kontrastiert das tradierte Verständnis von Persönlichkeitsstörungen mit dem aktuellen Modell. Hierfür legt er dessen ideengeschichtliche Herkunft aus der entwicklungspsychologisch orientierten Psychodynamik frei. Die klinisch-rekonstruierende Arbeit mit psychisch kranken Menschen ermöglicht ebenso wie die empirische Säuglingsbeobachtung die enorme Bedeutung interpersonaler Prozesse für die Subjektwerdung und Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen. So wird Persönlichkeit als Funktion verstanden, die den Bezug zur eigenen Person bzw. dem Selbst und zu anderen Personen ermöglicht.
Für den gesunden Selbstbezug sind Aspekte von Identität, Selbstreflexion und –steuerung zentral. Der Bezug zu anderen bedarf in Wünschen nach Nähe der Fähigkeit zu Intimität, für die auch Empathie eine wichtige Rolle spielt.
Der Paradigmenwechsel im Verständnis von Persönlichkeitsstörungen ist insofern grundlegend, als er von negativer Etikettierung „abnormen Persönlichkeiten“ absieht. Vielmehr ist aus klinisch-psychopathologischer Perspektive als sinnvoller Fortschritt zu begrüßen, das zentrale Aspekte menschlicher Beziehungsfähigkeit in den Blick gerückt werden. Gleichwohl kann auch er die Herausforderung, zwischen ‚gesunder Normalität‘ und ‚krankhafter Abweichung‘ zu trennen, nicht überzeugend lösen. Klinisch-therapeutisches Vorgehen muss sich bei allen Fortschritten der bleibenden Ambivalenz unzureichender Begrifflichkeit bewusst bleiben.
Die Veranstaltung ist eine Kooperation der Karl Jaspers Gesellschaft mit Dr. med. Silke Kleinschmidt als Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Karl Jaspers-Klinik Westerstede).
Carsten Spitzer leitet als Direktor die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Rostock. Er ist Mitherausgeber verschiedener Fachzeitschriften und forscht u.a. zu Persönlichkeit und ihren (entwicklungsbedingten) Störungen. Jüngste Buchpublikation: Psychotherapeuten und das Altern – Die Bedeutung des Alterns in der therapeutischen Beziehung und der eigenen Lebensgeschichte (Springer 2023).