Die geistige Situation in Deutschland. Eine Diskussion zu Jaspers‘ „Schuldfrage“ (Matthias Bormuth und Igor Ebanoidze)
Kategorie: Archiv
Do., 1. Feb., 19:30 Uhr
Im Winter 1945/46 hielt Karl Jaspers an der neu eröffneten Universität Heidelberg die Vorlesung »Die geistige Situation in Deutschland«. Anders als in seiner Zeitdiagnose von 1931, die kurz vor dem Beginn des „Dritten Reiches“ die moderne Massengesellschaft im Namen des Einzelnen hinterfragt hatte, ging es Jaspers nun um die Selbstbesinnung aller Deutschen nach der Katastrophe, die im Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung der europäischen Juden kulminiert war.
Zuerst verortet Matthias Bormuth die Vorlesung, die 1946 unter dem Titel »Die Schuldfrage« erschien, im historischen und moralphilosophischen Rahmen. Anschließend fragt der Kulturphilosoph Igor Ebanoidze im europäischen Kontext nach ihrer aktuellen Bedeutung. Sie ist nicht nur eine „national-pädagogischen” Betrachtung wie Nietzsches »Unzeitgemäße Betrachtung« über David Friedrich Strauss am Anfang des Kaiserreichs oder Max Schelers Schrift »Die Ursachen des Deutschenhasses«, die am Ende des Ersten Weltkriegs entstand.
So stellt er die Fragen: Dürfen wir »Die Schuldfrage« lediglich als historisches Dokument lesen oder als Muster der existenzphilosophischen Denkens betrachten? Oder sind Jaspers‘ Überlegungen zu den verschiedenen Kategorien der Schuld auch nach 70 Jahre später wichtig für das politische wie persönliche Leben in Europa und darüber hinaus?
Igor Ebanoidze studierte am Maxim Gorki-Literatur-Institut, er promovierte in Moskau zum frühen Schaffen Thomas Manns. Von 2004 bis 2014 arbeitete er als Herausgeber und Übersetzer an der 13-bändigen Friedrich Nietzsche-Gesamtausgabe. Zurzeit ist er Leiter des Verlages „Kulturnaja revolutsija” und Mitarbeiter des Instituts für die Weltliteratur. 2015 wurde er mit dem Medaille des Instituts für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.
Matthias Bormuth hat die Heisenberg-Professur für vergleichende Ideengeschichte am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität inne und ist Vorsitzender der Karl Jaspers-Gesellschaft.